Die Schwanenfrau als Stammmutter der Schamanen

Überliefert aus Burjaten, Sibirien

Auszug aus dem Buch von Nana Nauwald:
„Der Flug des Schamanen“ – Schamanische Märchen

Weit im Osten, im Land der Chorin-Burjaten, lebte einst ein junger Mann namens Tangkalshing. Eines Tages hörte Tangkalshing das Schlagen großer Vogelflügel über seinem Wohnplatz und sah fünf Schwäne fliegen, die sich auf dem naheliegendem See niederliesen. Erst dachte er: das sind Zugvögel, die wollen nach Norden fliegen. Dann wurde er aber neugierig und beschloss, sich diese großen Vögel von Nahem anzusehen. Er ging zum See und schlich sich von den Vögeln unbemerkt ans Ufer und versteckte sich hinter einem Gebüsch. Da sah Tangkalshing, daß es keine Zugvögel waren sondern fünf wunderschöne Mädchen, die zum Baden ihre Schwanenkleider abgelegt hatten. Er wartete auf einen günstigen Moment, ergriff sich eines der blütenweissen Federgewänder und versteckte sich wieder hinter dem Strauch.
Nachdem die Mädchen ihr Bad beendet hatten, zog jede am Ufer ihr Kleid an und ward sogleich wieder ein Schwan. Nur ein Mädchen war ohne Kleid und suchte verzweifelt danach. Sie konnte es nirgends finden und begann bitterlich zu weinen. Sie rief unter Tränen:“Derjenige, der mir mein Kleid weggenommen hat, der gebe es mir zurück.“ Denn ohne ihr blütenweisses Schwanenkleid konnte sie nicht fliegen. Die vier anderen Schwanenmädchen drängten zum Aufbruch und flogen davon. Nur das fünfte Schwanenmädchen blieb nackt am Ufer zurück.
Da rief das Schwanenmädchen wieder:“ Derjenige, der mir mein Kleid weggenommen hat, der gebe es mir zurück. Er mag sich von mir erbitten, was es auch sei, ich werde es ihm geben.“
Da kam Tangkalshing hinter dem Gebüsch hervor und sagte, er sei derjenige, der ihr Kleid entwendet habe. Er brachte ihr die Unterkleidung, aber nicht das weisse Flügelkleid. Dann schlug er ihr vor: „Werde meine Frau.“ In ihrer Not war sie damit schließlich einverstanden und folgte Tangkalshing zu seinem Wohnplatz. Er verwahrte den Schwanenrock in einem Kasten aus Eisen und verschloß ihn.
Sie war ihrem Mann eine gute Frau und gebar fünf Söhne und fünf Töchter. Sie war nicht nur eine gute Frau und sie war auch eine kluge Frau. Eines Tages sagte die Schwanenfrau zu ihrem Mann:“ Mann, so lange Zeit bin ich schon deine Frau, so viele Kinder habe ich dir geboren. Komm, mach Milchbranntwein, darauf wollen wir trinken.“ Der Mann bereitete den Milchbranntwein zu und sie begannen zu trinken. Da sagte die Frau zu Tangkalshing: „Wieviele Jahre wir zusammengelebt haben, so viele Kinder haben wir. Nun kannst du mir ruhig einmal wieder meinen Schwanenrock zeigen, den du mir damals fortgenommen hast, denn jetzt fliege ich nicht mehr weg.“
Tangkalshing hatte schon viel Tarassun getrunken, ging zu der Eisenkiste, öffnete sie und gab ihr das Federkleid.
Sie wurden beide immer ausgelassener und tranken noch mehr Tarassun. Sie saßen in der Jurte, dem runden Filzzelt. In der Mitte der Jurte lagen drei grosse Steine, darauf standen die Schüssel und der Brennereiapparat. Plötzlich zog die Frau das Schwanenkleid an, schrie dreimal mit Schwanenstimme:“Gü, gü, gü“ erhob sich und flog hoch zum Rauchloch und davon.
Der Mann und die Kinder liefen vor die Jurte. Die Schwanenfrau flog noch einige Kreise über der Jurte und rief: „Meine Kinder! Meine Töchter, werdet Schamaninnen! Meine Söhne, werdet Schamanen!“ Darauf flog sie weg. Ihre Kinder wurde die ersten Schamanen, mit ihnen begann der Schamanismus. Sie waren sehr mächtige Schamanen. Sie konnten fliegen, konnten sich unsichtbar machen und ihren Leib aufschlitzen und sich den Kopf abschneiden ohne zu sterben. Unsere ersten Schamanen waren außerordentlich mächtige Schamanen.

Alle Texte & Grafiken © Nana Nauwald
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