Seitdem ich die Macht der menschlichen Stimme in den Ritualen der Schamanen erfahren habe, ihren Gesang, ihre Mantren, ihre Stimmveränderungen, wundert es mich nicht länger, daß Orpheus mit seinem Gesang die Herren der Unterwelt dazu brachte, ihm die Schwelle zum Jenseits zu öffnen. Daß sein „orphischer“ Gesang nicht nur Menschen, sondern vor allem Tiere in den Bann schlug (deren Gehör wesentlich feiner und empfindlicher ist als das der Menschen), verstehe ich nun auch.

Orpheus – ein Schamane mit Kenntnis der Trance-Musik?

Wenn er mit seiner Stimme die Zuhörer zum „ekstatischen Erleben“ gebracht hat, wenn er es durch seine Stimme die Bewußtseinsfilter der anderen verschieben konnte, dann hat er „Trancemusik“ gemacht. Nur über das Medium seiner Stimme hat er bewirkt, daß die Zuhörenden ihre kulturell überlieferten Inhalte von Musik vergessen haben und bereit waren, andere Inhalte und Wahrnehmungen zu erfahren. Das ist „Trancemusik“ in feinster schamanischer Art: nicht „informierend“, sondern „desinformierend“, sich nicht mehr im gewohnten Raum orientieren können, Platz zu schaffen zur Aufnahme neuer Bedeutungen.

Dafür sorgt der Schamane im Ritual immer wieder auf unterschiedliche Weise – ein Wechsel im Rhythmus, ein Pfeifen, die Veränderung der Stimme und die Verstellung der Stimme sind wirkungsvolle Arten, die Ritualteilnehmer zu irritieren. So schafft der Schamane nicht nur neue Aufmerksamkeit, durch die kleine akustische „Aufrüttelung“ wird auch eine zusätzliche Endorphinausschüttung angeregt, die ein tieferes Eintauchen in den Zustand einer veränderter Wahrnehmung erleichtert.

Die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen wortes „cantare“ ist nicht „singen“, sondern „beschwören“, „zaubern“. Das spanische Wort „encantamiento“ mit der Bedeutung von „Entzücken“, „Verzauberung“ weist genauso wie das englische Wort „enchantment“ auf die Macht des Gesanges hin, mit der das Bewusstsein erweitert werden kann, um in den Kontakt mit den Schwingungsfeld der Anderswelten zu treten.
In den durch Schamanentum geprägten Ethnien existierte bis zum Zeitpunkt des Einflusses westlicher Sprachen der Begriff „Musik“ nicht. Bei der Arbeit einer SchamanIn geht es auch nicht darum „Musik“ zu machen. Die Bezeichnungen der „Instrumente“ haben immer eine Bedeutung, die den Klang des Instrumentes direkt mit einbezieht. Die Stimme ist das mächtigste Instrument des Schamanen.

„Die Stimme kann einen Menschen krank machen oder ihn erheben. Sehr wenige Menschen in dieser Welt wissen, bis zu welchem Maß Erscheinungen durch die Macht der Stimme hervorgerufen werden können. Wenn es irgend eine wahre Spur von Wunder, von Erscheinung gibt, dann liegt sie in der Stimme.“Hazrat Inayat Khan
Das Wort für Singen bedeutet häufig auch „rezitieren“, „Mund und Lippen gebrauchen“, „in Trance fallen“.

Der „Gesangsstil“ einer heilenden SchamanIn unterscheidet sich von Kultur zu Kultur und der jeweiligen Funktion nach: Heilmelodien; Melodien, die Klangleitern in die Anderswelten bilden (siehe Kapitel 6, Abschnitt „Icaro“); Lieder die „Geschichte“ erzählen; Melodien die Geister einladen, besänftigen, anfeuern und verabschieden; Sprechgesänge in denen die SchamanIn berichtet, was sie auf ihrer Reise sieht – und viele Varianten mehr.

„Schamanengesang ist Ausdruck einer innigen Beziehung zwischen Geist und Materie. Gesang ist auch oft ein Zeichen für die Einkehr einer geistigen Wesenheit in den Schamanen. Gesang wird zum Ausdruck der Verwandlung des Schamanen an Seele und Geist. Der Gesang ist das Zeichen der Ganzheit des menschlichen Geistes. Die Stimme des Schamanen . . . ist die Trägerfrequenz für die zeitlosen Symbole, die diese archaischste aller Manifestationen des Heiligen kennzeichnen“.Joan Halifax, Die andere Wirklichkeit der Schamanen
Ich konnte in verschiedenen Kulturen beobachten, daß in Gesängen, die für eine direkte Kommunikation mit den Geistern eingesetzt werden, immer eine Stimmveränderung stattfindet. Dazu werden u.a. die Hände als Trichter oder Schale vor den Mund gelegt, harzhaltiger Rauch eingeatmet, der die Stimmbänder belegt; in ein Gefäß hineingesungen; feine Membrane durch Ansingen in Schwingung gebracht.

Schamanengesang
Der ungarische Anthropologe Vilmos Diószegi studierte 1958 ein Jahr lang die sibirischen Schamanen. Eines Tages überredete er den Schamanen Kizlasov, eine Bandaufnahme von seinen Liedern
machen zu dürfen.

„Es war eine unvergessliche Erfahrung. Kaum hatte der alte Mann begonnen, sein Lied zu singen, war ich völlig davon eingefangen. Er hatte keine Trommel in der Hand, doch mit seiner rechten Hand schlug er den Rhythmus als ob er einen Trommelstock halten würde, zuerst langsam, dann schneller, dann in Takten. Die Stimme füllte den leeren Raum, wurde als Echo von den Wänden zurückgeworfen und strömte unablässig aus dem Mund des Schamanen, zuerst langsam, dann wurde sie stotternd, dann wie ein Sprechgesang, wurde wieder zum Lied und dann zu einem Monolog. Danach bildete sich Fragen und Antworten, dabei war die Stimme sanft und als sie abklang war sie in hohen Tönen und darauf in tiefem Bass. Einmal war sie wie ein sanftes Pfeifen, ein anderes Mal wie das Wiehern eines Pferdes.

Mir wurde klar: kein Stift, kein Cassettenrecorder kann das je einfangen. Aber es sollte vor der Vergessenheit durch einen Tonfilm bewahrt werden. Es kann jedoch nie dasselbe ohne die ursprüngliche Umgebung sein – und diese existiert nicht mehr…

Sind wir je fähig, den Gesang korrekt zu interpretieren? Der Rhythmus des Textes, die Melodie und die Bedeutung der verschiedenen Worte können vielleicht herausgearbeitet werden, aber können wir je begreifen was hinter ihnen steckt? Die innere Spannung, die geheime Bedeutung der verschiedenen melodischen Motive und die innerste versteckte Bedeutung bestimmter Ausdrücke werden wohl ein ewiges Geheimnis bleiben.“

Vilmos Diószegi in „Shamans through Time“

Die Gesänge wirken nicht nur durch das Schwingungsfeld der Töne, sondern auch durch die Worte, die eine bestimmte und beabsichtigte Information in das Schwingungsfeld tragen.

Der Schamane Kajuyali Tsamani, Kolumbien, erzählte mir von seinem Lehrmeister, dem „abuelo furnamilani“, Schamane der Sikuani: „Mein maestro heilt nur mit Gesängen. Er kennt 10 000 Lieder, die für 10 000 verschiedene Dinge wirken: zur Heilung von Krankheiten, für Glück und Liebe und Erfolg, zum Schutz vor der Absicht meiner Feinde, gegen neidische Blicke, zum Unsichtbarmachen, zum Nicht-Alt-Werden – diese Lieder wirken heilend auf alle Angelegenheiten der Menschen, die sich nicht in der Harmonie mit dem Kosmos befinden.

Seit einigen Jahren lerne ich die Gesänge von ihm, sie werden in einer speziellen Schamanensprache gesungen, die nur Schamanen verstehen können. Manche dieser Gesänge haben keine Melodie, nur Worte. Sie wirken auch, wenn sie unhörbar für die Anderen innerlich gesprochen oder gesungen werden.

Jede Pflanze, jeder Stein, jedes Tier hat ein bestimmtes „Lied“, alles hat seine ganz unverwechselbare Schwingung. Wenn man das „Wesen“, die Schwingung einer Pflanze kennt, ihre Wirkungskraft, dann braucht man die Pflanze als Materie zum Heilen nicht mehr. Dann kann man mit dem „Lied“ der Pflanze heilen.“

Dieses Wissen der Sikuani-Schamanen um die Wirksamkeit der Heilung durch „Wort-Klang-Information“ hat mich nachhaltig beeindruckt. Was für eine mächtige „homöopathische Schamanenarbeit“!

Bei vielen Ethnien des Amazonasgebiets werden die „wichtigen“ Lieder im Heilritual „mental“ gesungen.

Die Kraft der Worte

SchamanInnen und HeilerInnen aller Kulturen sind MeisterInnen einer wirkungsvollen „Wort-Klang-Informations -Arbeit.

Einst praktizierte in Delhi ein Arzt, der hauptsächlich mit der Kraft des Wortes arbeitet. Eines Tages kam ein skeptischer Patient. Der Arzt murmelte ein paar Worte, dann sagte er zum Patienten: „Nun kannst du gehen“. Der Patient fühlte sich mit seiner Krankheit nicht ernst genommen. Darauf reagierte der Arzt sehr ungehalten und unfreundlich, was wiederum den Patienten sehr ärgerlich machte. Darauf sagte der Arzt: „So unfreundlich werde ich höchst selten, aber ich mußte es sein um Ihnen etwas zu beweisen: wenn meine Worte sie ärgerlich und krank machen können, dann können sie auch heilen. Wenn Worte jemanden aus der Fassung bringen können, dann haben sie auch die Kraft, den Patienten in eine gute Verfassung zu bringen.“Hazrat Inayat Khan
Mächtige BeherrscherInnen des geistigen Werkzeugs „Wort-Klang“ sind auch die SchamanInnen Nepals, die Jhankri.

Sie arbeiten nicht nur mit hörbaren Worten und Liedern, mächtiger noch als die hörbaren Klänge sind für sie die innerlichen „Wort-Klänge“, ihre Mantras.

Ein indischer Mönch unterbrach sein jährliches »Retreat« in der Regenzeit, um seine Mutter zu besuchen, weil er befürchtete, daß sie großen Mangel an Nahrung litt. Er war sehr überrascht, daß er sie gut und glücklich aussehend vorfand. Noch erstaunter war er, als sie ihm erzählte, sie habe ein besonderes Mantra gelernt, mit dem sie »durch die Macht der Großen Göttin« in der Lage sei, Steine zum Kochen zu bringen und sie in nahrhaftes Essen zu verwandeln. Kaum hatte sie angefangen,das Mantra zu rezitieren, begann der gelehrte Mönch, zahlreiche Fehler in ihrer Aussprache zu korrigieren. Aber ach, als die arme Frau das Mantra richtig rezitierte, erwies es sich als völlig unwirksam!
Darauf gab ihr der kluge Sohn den Rat, zu ihrer früheren Rezitationsweise zurückzukehren – und alsbald verwandelte sie wieder Steine in gute Nahrung!

Mantras sind Manifestationen des Klanges einer Energie mit schöpferischen, verwandelnden und zerstörerischen Kräften. Diese Kräfte wirken nicht durch physikalische Schwingungen und sind auch nicht als physikalische Schwingungen messbar.

Im Mantra verbindet sich der „gewöhnliche“ Klang mit dem Schöpfungsklang, der die schöpferischen, verwandelnden und zerstörerischen Kräfte in sich birgt. Im Mantra verbindet sich auch die gewöhnliche Luft, die wir atmen, mit der kosmischen Energie, der durch Meßungen und Untersuchungen nicht nachweisbaren Qualität, die allem Leben „den Atem einhaucht“.

Diese Qualität durchdringt alles Lebendige.

Das Mantra besteht aus Silben, die eine begriffliche Bedeutung haben können, mit denen manchmal auch keine begriffliche Bedeutung verbunden ist. Die Silben des Mantra „verkörpern“ bestimmte Qualitäten der sich immer wieder neu erschaffenden Schöpfungs-Energie, dem Ursprung aller Welten.

„Es wird von einem Tibeter erzählt, der zwar ein ungeheures Vertrauen in die Weis–heit der indischen Gurus, aber nur geringe Kenntnis des Sanskrit hatte. Als er nach Indien reiste und sich in einem besonders ungeeigneten Augenblick an einen berühmten Guru wandte, wurde er mit einem lauten »Hau ab!« und einer wegwerfenden Geste der Abwehr bedacht. Dieses hielt er in seinem Irrtum für ein machtvolles Mantra mit der dazugehörigen Mudra, und als er in seiner Einsiedelei in den Bergen damit übte, erlangte er bald einen hohen Grad der Erleuchtung. Als er zu dem Guru zurückkehrte, um sich zu bedanken, erfuhr er von seinem lächerlichen Irrtum; doch der Guru warf ihm nicht etwa seine Dummheit vor, sondern beglückwünschte ihn dazu, daß er dank seines unerschütterlichen Glaubens mit einer unkonventionellen Praxis zu wertvollen Erkenntnissen gelangt war!“
John Blofeld

Das Aussprechen ruft im Geist dessen, der es spricht, augenblicklich die Qualitäten hervor, die er mit ihnen zu assoziieren gelernt hat.

Da sich die meisten Mantras, die ich gehört habe, für meine Ohren wie Zungenbrecher anhören, habe ich einen nepalischen Schamanen befragt, ob das Mantra auch wirkt, wenn ich es nicht richtig ausspreche. Er lachte nur und sagte, ich solle es so aussprechen, wie ich es verstünde, es gäbe keine „falsche“ Aussprache. Der Klang des ausgesprochenen Mantra sei so etwas wie ein Zeichen für die hinter dem Klang stehen mächtige Kraft des Mantra. Diese Kraft kann nur wirken, wenn man zuvor daran gearbeitet hätte, die Kräfte des eigenen Geistes zu erschließen und sich beim Aussprechen des Mantra die Qualität vorstellt, für die dieses Mantra bestimmt ist.

„Mantras haben nicht nur Klang, sondern auch Form und Farbe. Die Form oder das archetypische Bild oder Symbol, mit dem es verbunden ist, muß im Augenblick der Rezitation heraufbeschworen werden, da dieses Bild der Speicher all der psychischen, emotionalen und spirituellen Energie ist.“
John Blofeld

Die Art der Aussprache hat weit weniger Konsequenzen als der begleitende geistige Akt. Wenn ein Schamane eine „Not-Heilung“ macht, muß er mit seinem Geist in der Qualität dieses „Not-Heilungs-Mantras“ sein. Die geistige Kraft des Schamanen kann unabhängig vom Klang des Mantra mächtig wirken, aber ohne die geistige Kraft ist der Klang eines Mantra ohne Wirkung.

Den Mantren der nepalischen SchamanInnen haftet immer auch etwas magisches Beschwörendes an. Gebannt habe ich den Erzählungen gelauscht, denen zufolge ein jhankri mit seinem Mantra den Angriff eines Tigers abgewehrt haben soll, er soll ihn „mantrisch“ in ein Kätzchen verwandelt haben! Schade, daß ich das nicht mit erleben konnte!

Ich durfte aber mehrfach die Kraft der Mantras der Schamanen in ihren Heilritualen erleben, denn Mantren sind die wichtigsten Werkzeuge eines Jhankri – Klang, Absicht, Geist.

„Die Schamanen opfern ihr Leben dem Leben anderer Menschen. Sie geben alles, was sie haben. Nur eines geben sie niemals preis: ihre Mantren. Denn das ist ihr geheimes Werkzeug. Es wurde ihnen – und nur ihnen ganz persönlich – bei oder durch die Berufung verliehen. Wenn ein Schamane seine Mantren verrät, verrät er sich selbst. Dann verliert er seine Kraft.“
Christian Rätsch

Die Schamanen Nepals versetzen sich mit ihrem Mantra in Trance, rufen Geister herbei, reisen durch die Welten, heilen.

So wie der Schamane in Kolumbien mit seinen „10 000 Liedern“ heilt, so haben auch die Schamanen Nepals für jede Krankheit und jeden Zustand der Seele ein Mantra, selbstverständlich auch für Liebe, Glück, Erfolg. Zwar nicht „10 000“, aber doch mindestens 108, die heilige Zahl der Schamanen Nepals.

Es gibt 108 Namen des Shiva, 108 Perlen in der Mala des Schamanen, 108 Heilkräuter, 108 Schutz- und Tiergeister, 108 Zutaten zum „schamanischen Weihrauch“ – alles, was in der Schamanenwelt Nepals von Bedeutung ist, ist 108fältig.

Das innerlich gesprochene Mantra bringt den Jhankri in Sekundenschnelle in den Zustand einer Trance, in dem sich die Welten zu einem Punkt verbinden, zu dem Moment der Schöpfung. Aus diesem nicht statischen, sondern lebendigem Moment der sich immer wieder neu erschaffenden Schöpfung heraus bezieht der Jhankri Erkenntnis und Wissen. Sein Mantra webt ihn ein das Bewußtseinsfeld, das alle Welten und Informationen in sich eint – nun muß der Jhankri nur noch die für seine heilende Arbeit notwendige Information einsammeln und in diese Wirklichkeit transportieren!
Namaste – ich grüsse den Gott in dir!

Alle Texte & Grafiken © Nana Nauwald
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