Nun weiß ich endlich wie es ist, in der Pampa zu stehen: Steine, Steine, Steine – mageres Gras, ein endlos weiter, knallblauer Himmel, im Dunstschleier am Horizont verbergen sich die Anden.
Neben mir, vor mir und hinter mir liegen Hunderte von blendendweiß strahlenden Knochen aller Größen und Formen: Schenkelknochen, Beckenknochen, Bruchstücke von all den Knochen, die zum menschlichen Skelett gehören. Genau vor meinen Füßen liegt ein kompletter Schädel, in Blickweite schaut ein langer Haarstrang aus dem Geröll hervor, bräunlich verblichen von der Sonne.

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Ich stehe inmitten der Hinterlassenschaften jahrhundertelanger Grabräuberei in der Region von Nasca, Peru.
Matteo, der alte Mann der mich hierher geführt hat, stammt auch aus einer Grabräuberfamilie. Mit Gelassenheit betrachtet er mich, spürt meine Berührtheit. Tage der gemeinsamen Erkundung der rituellen Geoglyphen von Nasca und Palpa, der Felszeichnungen im Canyon, der verschiedenen Ausgrabungsstätten und des Besuchs von Curanderos und Kräuterfrauen haben uns einander näher gebracht.
Matteo stößt mit dem Fuß an den Schädel vor mir, er fällt auf die Schädeldecke und wiegt sich einen Moment lang hin und her. Der Schädel schüttelt seinen Kopf, wahrscheinlich über mich.
Auch Matteo wiegt bedächtig seinen Kopf hin und her, ebenfalls meinetwegen.
„Du bringst viel Kraft und Geld auf, um hierher zu kommen. Du bist zäh und geduldig, das habe ich gemerkt, denn du suchst etwas. Du fragst viel nach Magie und Heilpflanzen und nach Heilern und Geistern.
Aber das sind Sachen, über die wir hier nicht vor Fremden reden, denn wir sind katholisch.
Du kommst aus einer Welt, die alles hat und in der es alles gibt, in der man alles weiß und erklären kann.
Warum gehst du diesen mühsamen Weg hierher zu kommen, um unser altes Wissen kennen zu lernen?
Was suchst du?
In Büchern und im Internet steht doch alles Wissen aus aller Welt, auch das aus den alten Zeiten.“
Matteo stößt wieder leicht mit seinem Fuß den Schädel an.
„Schau her! Wenn du tot bist, dann sieht dein Schädel genauso aus wie dieser hier. Was macht dann den Unterschied aus zwischen dir und dem hier? Wo bleiben deine Fragen und Antworten, deine Gedanke und Eindrücke, deine Erfahrungen und Empfindungen, wenn du so tot bist wie der hier?“
Matteo dreht den Schädel so um, dass mich die leeren Augenhöhlen anstarren.

Wo sind die Bilder geblieben, die diese Augen vor ca. 2000 Jahren gesehen haben?
Gibt es so etwas wie eine „kosmische virtuelle Bibliothek für im Menschenleben Erfahrenes“?

Und vor allem, was suche ich eigentlich? Ob zu Hause in der Lüneburger Heide, im Dschungel, in der Wüste oder in den Bergen:
Was bewegt mich dazu, mich zu bewegen – innen und außen, außen und innen – Bewegung ist ohne Trennung. Ich bin es, die sich bewegt. Wenn ich mich bewege, bewege ich meine Welt, und meine Welt bewegt mich.
Es ist diese Bewegung – die mich herausfordert.
Das kann auch beinhalten, gegen den Strom zu gehen – ein kosmischer Clown zu werden, der durch „anders handeln“ Regeln und Ordnungen in Frage stellt und sie neu verwirbelt.
Meine Welt – ein bunte Einheit unterschiedlicher Wirklichkeiten, erfahren mit all meinen Sinnen, meinem Verstand und meinem Geist.
Meine Wirklichkeiten sind Facetten der vielfarbigen Welt des Lebens im bewussten Kontakt mit den sichtbaren und nicht-sichtbaren Erscheinungen des Lebens, mit der Natur und den Wirkungszusammenhängen und Kräften des Kosmos.

Schamanismus, so ist mittlerweile die gängige Bezeichnung für diese Weise der Weltsicht.

Eine weise Weise um zu werden, die ich bin: meinem Wachstum zu lauschen indem ich dem Wachstum der Natur lausche.
Eigenverantwortung für mein Handeln und Denken zu übernehmen in dem ich erspüre, was zu meinem Wohl ist.
Mein Wohl als untrennbar verbunden mit dem Wohl der Menschen und Geschöpfe, mit denen ich lebe, zu wissen.

Schamanentum ist Schamanen-Tun.

Heilsames, absichtsvolles Tun ist der Kernpunkt aller Facetten dieser Weltsicht.
Nichts ist richtig und nichts ist falsch – entscheidend ist, dass es für den Menschen stimmig ist, der sich für eine bestimmte Art des sichtbaren Handelns entschieden hat.
Es spielt keine Rolle, ob ich den Osten mit der Farbe Gelb belege oder mit Rot, ob ich die Adlerfeder schwinge oder mit einem Grashalm wedele, ob ich rechts herum gehe oder links herum, ob ich Anrufungen auf Nepali murmele oder auf Plattdeutsch, ob ich ein Ritualgewand trage oder meine Alltagskleidung: heilsames Tun ist unabhängig von allen Ritualobjekten, Bezeichnungen und anderen Attributen.

Bewusstes Tun.

Und um mehr geht es eigentlich nicht in dieser Weltsicht die davon ausgeht, das alles, was ist, einen Geist hat und alles miteinander verbunden ist, aufeinander einwirkt.
Schamanen-Tun ist die lebendige Mutter dessen, was „ordentliche“ Wissenschaften heute „Resonanzphänomen“ nennen.

Matteo würde mich an dieser Stelle sicher wieder fragen: “Was suchst Du, was du nicht auch in der Religion finden kannst?“
Stimmt. Buddha und Jesus und Mohammed haben auch immer wieder zum heilsamen Handeln aufgerufen. Die Wege des „Findens“ sind vielfältig, denn es geht eigentlich um ein „Finden“, nicht um ein „Suchen“.
Ein Weg des „Findens“ ist für mich ein Weg, immer wieder neu mein „Sein“ zu erfahren, zu finden was da ist und es zur Blüte zu bringen. Mein Lebensweg ist nicht von der Absicht bestimmt, an ein „Ziel“ zu kommen. Denn ich kenne das Ziel nicht.
Und weil es mir Lust und Freude und Neugierde und Zufriedenheit bereitet, meinen Körper zu fühlen und ihn nicht verneinen zu müssen, mit meinen Sinnen die Welt wahrzunehmen und sie nicht beschneiden zu müssen, den Bewegungen des tanzenden, singenden Windes zu folgen und nicht eingesperrt zu sein in von Menschen erstellten Glaubensregeln, Macht- und Herrschaftsstrukturen die nur zum Wohle einer so genannten „Elite“ dienen – das sind einige der Gründe für mich, in den Welten des Schamanen-Tuns zu Hause zu sein.
Matteo würde nun sicherlich zustimmend nicken, denn auch er geht nicht nur in die Sonntagsmesse, sondern zum Curandero, wenn die Harmonie in seinem Leben gestört ist.

Nebenbei angemerkt: eine kluge Art, sich selbsternannte Schamanen und Schamaninnen in unseren Seminarwelten anzusehen ist: zu schauen, ob sie heilen – wirklich heilen – und ob sie sich für das Wohl der Gemeinschaft einsetzen. Eine Trommel macht noch keinen Schamanen. Schamanen-Tun ist erlernbar, Schamane/Schamanin zu sein bedarf immer noch als Voraussetzung die „Gabe“, die außerordentliche Fähigkeit zum egofreien „Sehen“, ohne das „Heilen im Schamanismus“ nicht möglich ist.

Und auf seine Frage, warum ich seit Jahren die oft mühsamen Wege in die Welten indigener Völker, in denen Schamanismus noch gelebt wird, gehe, kann ich Matteo antworten: weil ich dort, in der alltäglichen Einfachheit des Lebens mit den Herausforderungen der Natur, der dort lebendigen Geister, des Wissens um das jeweilige „Lied“ jedes Wesens erfahren habe, dass ich „wirklich bin“.
Ein grundsätzlich vollkommenes Menschenwesen. Meine Fragen, Zweifel und Ängste sind Teile dieser Vollkommenheit, sie sind die „Stolpersteine“ die verhindern, dass ich in Wohlgefälligkeit ersticke.
Einer der weisen Alten, denen ich auf meinen Wegen im Dschungel begegnet bin- ein Schamane ohne Federkrone und ohne Ritualgewand – hat mir auf meine Frage nach dem „Mensch-Sein“ erzählt:

„Wir sind anders als die Pflanzen und Tiere, wir haben eine andere Aufgabe im Leben als sie.
Menschen, die nicht erkennen, wer sie sind und wofür das Leben sie braucht, sind weniger lebendig als jede Pflanze und jedes Tier, denn sie leben nicht das, was sie sind, sie funktionieren nur.
Diese Menschen kennen ihren Gesang nicht. Ich glaube, das ist es, was die Menschen aus deiner Kultur bei uns Schamanen suchen, sie wollen nicht mehr nur funktionieren, sie wollen Menschen sein.
Jede Pflanze und jedes Tier ist in seiner Art vollkommen, sie sind, was sie sind. Oder hast du schon einmal gesehen, dass eine Schildkröte versucht, das Fliegen zu lernen?
Wir Menschen sind anders, wir sind selten zufrieden mit uns, weil wir nicht wissen, von welchem Geist wir sind, welches unser Lied ist.“

Wenn ich wieder nach Nasca komme, werde ich mit Matteo wieder die Knochen in der Pampa aufsuchen. Und ich werde mich bei ihrem Anblick willentlich verbinden mit dem unvorstellbaren „Raum“, in den alle Energien des menschlichen Lebens – Gedanken, Worte, Gefühle – einfließen, wenn der Körper stirbt. Aus dem heraus sich alle Energien wieder materialisieren. Ich werde mich mit diesem „blauen Raum“ verbinden und denen ein Lied singen, deren Gebeine jetzt in der Wüste zerfallen. Ich bin mir sicher, sie hören mich!
Denn ich bin ein singender Baum, der im Schamanen-Tun wurzelt und die Welten verbindet – mögen es nun drei oder sieben oder neun sein!
Wenn ich wieder nach Nasca komme, werde ich Matteo erzählen, dass es bei uns in Deutschland einen berühmten Dichter gibt, der auch etwas von „Schamanismus“ gewusst hat, Rainer Maria Rilke heißt er:

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum.
Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch.
Oh, der ich wachsen will,
ich seh‘ hinaus, und in mir wächst der Baum.

Rilke
Wirklich zu verstehen, was Leben ist, wird über unsere Zukunft entscheiden.
Empfindungen, Gefühle und Wissenschaft haben sich jahrhundertelang ausgeschlossen. Das ändert sich. Forscher entdecken heute, dass es unsere Sinne und unsere Gefühle sind, die zu den Kernfragen der modernen Naturwissenschaften führen.
© 2009 Nana Nauwald
Dieser Artikel erschien zuerst in Connection Extra – Schamanismus heute –
Nov. 2008 – April 2009

Alle Texte & Grafiken © Nana Nauwald
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